20. November 2019

Neu- und Ausbauten der Seehäfen im Norden Italiens führen zu einer starken Zunahme des Süd-Nord-Verkehrs durch die Alpen. Zwar verfügt die Schweiz bald über eine durchgehende Flachbahn dank der neuen Bahntunnels und dem 4-Meter-Korridor. Aber diese genügen nicht, um Mensch und Umwelt zu schützen.

tob. Der Verkehrsexperte Kurt Metz sagt es so: «Im Verkehr durch die Alpen findet ein Paradigmenwechsel statt. Transporte werden vermehrt aus dem Süden nach Norden anfallen.» Warum? Die italienischen Häfen werden zurzeit massiv erweitert und modernisiert, damit auch dort die grössten Containerschiffe der Welt anlegen und ihre Fracht umschlagen können. Ein wichtiger Investor ist China, das sich zum Ziel gesetzt hat, noch mehr Waren nach Europa zu exportieren. In den nächsten Jahren wird man das nicht nur in den Läden, sondern auch auf den Transitstrecken durch die Alpen feststellen.

Seit Monaten berichteten die Medien über die neue Seidenstrasse, anspielend auf die antiken Handelsrouten von China über Zentralasien nach Europa. Der Begriff «Seidenstrasse» tönt gemütlich und lieblich. Er verschleiert damit die Interessen, die hinter dem Projekt stehen: China will ein gigantisches Handelssystem aufziehen, das den ganzen Globus umfasst. Europa hofft im Gegenzug, mehr Güter in den Fernen Osten zu exportieren.

Die Karten zeigen die Handelswege der neuen «Seidenstrasse» zu Land und zu Wasser.

Übers Meer und durch die Alpen

Dabei ist es für die Alpen entscheidend, was sich auf den Seewegen entwickelt, insbesondere im Mittelmeer und der Adria. Das mag überraschen, hat aber klare Gründe:

  • Von den Gütern, die in den norditalienischen Häfen entladen werden, sind viele für die Märkte im Osten Frankreichs, in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz bestimmt. Sie werden deshalb den Weg durch die Alpen nehmen und 75 Millionen Konsumenten innerhalb von weniger als acht Stunden erreichen.
  • Die Häfen in Ligurien und der nördlichen Adria sind vom Fernen Osten aus schneller zu erreichen als jene in Antwerpen, Rotterdam und Hamburg. Deshalb der Paradigmenwechsel: Die bedeutenden Wirtschaftsräume in Mitteleuropa dürften künftig verstärkt von Süden her via Alpen versorgt werden und nicht mehr über die Nordseehäfen, denn das lohnt sich für die Logistik und die Wirtschaft. Importe und Exporte über die italienischen Häfen sparen über 4500 Kilometer Seeweg rund um Gibraltar und bis zu zehn Tage im Vergleich mit den Häfen in West- und Nordeuropa.
  • Das Volumen, das über die Meere zu uns kommen wird, ist enorm. Ein Mega-Containerschiff, das beispielsweise im chinesischen Hafen Guangzhou ablegt und in Vado Gateway bei Savona anlegt, kann bis zu 20’000 Container geladen haben. Man rechne: Es transportiert aufs Mal gleich viele 20-Fuss-Behälter (TEU) wie 300 Züge oder 10’000 Lastwagen. Für genau solche Riesenschiffe werden die Häfen und Umschlaganlagen im Ligurischen Meer und entlang der Adria zurzeit ausgebaut.
Schematische Darstellung der Warenströme auf der Bahn von Süden nach Norden. Grafik: grillenzirp

Fatale Entwicklung

Am 12. Dezember 2019 wird der weitgehend automatisierte Hafen von Vado Gateway westlich von Genua mit einer Kapazität von 1,1 Millionen TEU eingeweiht. Er gilt als technisch fortschrittlichster Containerterminal in Italien. Mit seinem 700 Meter langen Quai ist der Tiefseehafen geeignet für die grössten Containerschiffe der Welt. Und was dort angeliefert wird, ist insbesondere für Mitteleuropa bestimmt, muss also die Alpen über- oder durchqueren. Dabei ist Vado Gateway nur eines der Beispiele: China investiert auch in den Hafen von Triest; Genua wird modernisiert und vergrössert; La Spezia baut aus.

Ein weiteres Puzzlestück der neuen Handelswege mit China: der Tiefseehafen Vado Gateway bei Savona (im Bild im Bau). Er wird im Dezember eröffnet. Foto: AMP-Terminals / Flickr

Die italienischen Strassentransportunternehmen wittern bereits ihre grosse Chance. Sie wollen noch mehr Güter herumkarren. Wie fatal das für die Alpen ist, zeigen Aussagen des Präsidenten der italienischen Transportunternehmer, Thomas Baumgartner, bis zum Generationswechsel 2017 Geschäftsführer und immer noch Inhaber des bedeutenden Logistikunternehmens FERCAM mit Sitz in Bozen (Südtirol). Er hat öffentlich die Änderung der internationalen Alpenkonvention gefordert. Nach zwanzig Jahren müsse das zum Schutz der Alpen unterzeichnete Verkehrsprotokoll geändert werden: «Wenn wir aus Italien eine Logistik-Plattform machen wollen, müssen wir das Verkehrsprotokoll der Alpenkonvention radikal überdenken», sagte er und meinte damit, dass die Strassen und generell die Infrastruktur im Alpenraum rasch ausgebaut werden müssen.

Bahn löst nicht alle Probleme

Zwar kann man feststellen, dass die italienischen Hafenbetreiber die Bahn als Transportmittel fördern wollen. APM Terminals etwa, die Betreiberin von Vado Gateway und Tochter der weltgrössten Containerreederei Maersk, plant vierzig Prozent der Container der Schiene zu übergeben und per Bahn zu empfangen. Italien baut bereits die 53 Kilometer lange Flachbahn Terzo Valico aus dem Raum Genua nach Norden zu den wichtigsten Hinterlandterminals und als Anschluss an die NEAT. Die Inbetriebnahme ist für 2023 geplant. «Die Zulaufstrecken zu unseren Alpentunnels in Norditalien sind bald besser als jene im Norden der Schweiz und sie bieten mehr Kapazität und Zuverlässigkeit als über die Rheinschiene», sagt Kurt Metz. Aus dieser Optik sei auch der geplante Grossterminal Gateway Basel Nord überdimensioniert. Der Brenner-Basistunnel wird erst 2028 bereit sein: Er ist der von Lastwagen meistbenutzte Alpenübergang mit über zwei Millionen Fahrzeugen pro Jahr.

Aber was wollen wir mit all diesen Gütern? Angesichts der drohenden Mengen genügt es nicht, diese auf die Schiene zu verlagern. Auch diese kennt Kapazitätsgrenzen. Die Politik muss handeln. Dabei werden wir auf unsere Strategie pochen, das heisst, Güterverkehr muss vermieden, verlagert, verträglicher gestaltet werden. Nur mit dieser Politik können die Alpen von der neuen Güterflut verschont werden. Und genau darauf müssen wir mit aller Kraft hinarbeiten.