28. Juni 2022

Dass aufgrund der jüngsten Krisen in Verbindung mit den derzeit instabilen weltweiten Logistikketten eine Abkehr von der Globalisierung erfolgen soll, kann Professorin Maike Scherrer (ZHAW) nicht bestätigen. Sie ortet aber doch vielerorts eine Rückbesinnung auf Regionalität und Nachhaltigkeit. Zudem sieht sie Potenzial in der Kreislaufwirtschaft, sofern diese ergänzende Schritte macht.

Inwiefern wirkt sich die gegenwärtige politische wie auch wirtschaftliche Lage – Pandemie, Ukrainekrieg, Bestreben sich aus Abhängigkeiten zu lösen – auf Logistik und Verkehr aus?
Die unterschiedlichen Unruhen bedingt durch Pandemie oder Politik haben dazu geführt, dass die Stabilität in unseren Lieferketten recht stark verloren gegangen ist. Dies führt dazu, dass es immer wieder zu Verzögerungen oder ganzen Lieferausfällen kommt. Was dann dazu führt, dass die Ver- und Entladepunkte mal völlig über- und dann wieder unterlastet sind. Diese Akkordeon-Bewegungen ziehen sich durch die ganzen Lieferketten und greifen sogar über auf andere Lieferketten.
Wir nennen das den so genannten Ripple Effekt.

Prof. Dr. Maike Scherrer

«Die Stabilität unserer Lieferketten ist recht stark verloren gegangen»

Was ist darunter zu verstehen?
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine glatte Wasseroberfläche und lassen einen Tropfen auf die Wasseroberfläche fallen. Dann gibt es eine kreisförmige Wellenbewegung vom Punkt des Aufpralls des Wassertropfens auf der Wasseroberfläche nach aussen. Dies ist der Ripple Effekt. Er erfasst also auch die Liefernetzwerke vom Punkt der Störung (z.B. Lieferausfall) vertikal in Richtung Rohmaterial und in Richtung Endkunde, aber auch in horizontal über einzelne Lieferketten in die verflochtenen Netzwerke hinein.

Die Globalisierung hat die Logistik also anfälliger gemacht?
Unsere Lieferketten sind über die letzten Jahre oder Jahrzehnte auf Effizienz getrimmt worden. Infolgedessen wurden sie auf immer weniger, dafür aber grosse Lieferanten konzentriert. Sie sind zugleich immer länger geworden, um günstige Arbeitskräfte oder günstige Rohmaterialmärkte zu berücksichtigen. Entstanden sind so zwar effiziente Logistikwege, deren Logistikkosten vernachlässigbar sind. Doch diese hochoptimierten Lieferketten sind gleichzeitig auch viel verletzlicher geworden. Aktuell spüren wir dies jetzt an ganz vielen verschiedenen Punkten.

«Von einer Abkehr der Globalisierung würde ich nicht gerade sprechen, aber von einer Rückbesinnung auf die Regionalität.»

Es mangelt offenbar auch an Containern für den Transport
In der Logistik spüren wir dies beispielsweise in der geringen Verfügbarkeit von Containern und Frachtkapazitäten, in den Produktions- und Lagerstandorten bei der geringen Materialverfügbarkeit. Es ist also ein Zusammenspiel aus unzuverlässiger/schlechter Verfügbarkeit von Material (von Rohmaterial über Halb- bis zu Fertigfabrikaten) und schlechter Verfügbarkeit von Kapazität in der Lieferung bedingt durch ganz unterschiedliche Einflussfaktoren wie oben beschrieben.

Man konnte schon von einer Abkehr von der Globalisierung lesen. Zu optimistisch?
Von einer Abkehr der Globalisierung würde ich nicht gerade sprechen, aber von einer Rückbesinnung auf die Regionalität. Ich glaube nicht, dass die Globalisierung vollständig wegbrechen wird. Es gibt aber feststellbare Tendenzen, dass Unternehmen sich genau überlegen, was wo herkommen soll und kann. Dies ist aber nicht nur durch die Pandemie ausgelöst worden, eine Rückverlagerungstendenz haben wir vorher schon festgestellt. Dies durch die Möglichkeit, insbesondere an Standorten mit gut ausgebildeten Mitarbeitenden wie der Schweiz, cyber-physische Systeme zu installieren. Also Systeme, wo Maschinen mit Maschinen interagieren und der Mensch in den Hintergrund rückt.

«Massenproduktion wird auch zukünftig noch in günstigeren und spezialisierten Ländern stattfinden.»

Mit welchen Folgen?
Somit sind die Argumente, dass die Lohnniveaus im Ausland tiefer sind, weggebrochen. Es benötigt immer noch Mitarbeitende in der Produktion, aber solche, die programmieren und die Maschinen digital steuern können. Die Aufgaben in der Produktion haben sich also verändert. Die Pandemie und die politischen Unruhen haben diese Tendenz beschleunigt, aber eine Abkehr der Globalisierung finde ich dann doch etwas übertrieben. Massenproduktion wird aus meiner Sicht auch zukünftig noch in günstigeren und spezialisierten Ländern stattfinden.

Und doch: Gibt es aktuell Tendenzen, die dieser transportintensiven und damit umweltschädlichen Entwicklung die Spitze brechen?
Wie erwähnt, findet eine teilweise Rückverlagerung statt. Somit muss nur noch das Rohmaterial in die Länder kommen und es müssen nicht mehr ganze Produkte auf ihrem Transformationsweg vom Rohmaterial bis zum fertigen Produkt teilweise mehrmals um den Globus geschickt werden.
Auch sind viele Unternehmen bestrebt, die Nachhaltigkeit zu erhöhen und hinterfragen deshalb ihre Lieferwege, Beschaffungs- und Produktionsstandorte. Beides hilft, die Nachhaltigkeit zu erhöhen und die Transportwege zu reduzieren.
Es muss aber dennoch genau analysiert werden, was der nachhaltigere Transportweg ist.

Frühjahrstomaten aus Spanien zu beziehen, kann nachhaltiger sein, als solche aus Schweizer Gewächshäusern.
Rein aus Betrachtung des ökologischen Fussabdrucks kann es sein, dass eine Beschaffung in Südamerika und Transport über den Seeweg auf das einzelne Kilogramm Material weniger CO2 verursacht als eine Beschaffung in z.B. Osteuropa und dem anschliessenden Transport über das Strassennetz mit einem Lastwagen. Näher ist nicht immer ökologisch nachhaltiger. Die Transportemissionen müssen aber von Fall zu Fall genau analysiert werden.

«Das Belassen von Material und die Vor-Ort-Aufbereitung ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie die Kreislaufwirtschaft funktionieren kann.»

Projekte zur Kreislaufwirtschaft feiern Furore: Was hat das für Auswirkungen auf die Beschaffungslogistik?
Die Bestrebungen, die einmal in ein Land gebrachte Materialien im Kreislauf zu lassen, findet immer mehr Beachtung. Fraglich ist hier aber, wie die Rücktransporte funktionieren. Es gibt Produkte, die werden zwar hier zurückgegeben, dann aber nach Afrika verschifft, um sie wieder auseinander zu nehmen und zu sortieren. Je nach Organisation der rückfliessenden Lieferketten verlassen die Produkte entsprechend dennoch den Kontinent. Es gibt aber auch sehr gute Beispiele.

Welche können Sie aus der Schweiz nennen?
In Zürich wird beispielsweise der Zürcher Bauschutt direkt im Hardfeld hinter dem Hauptbahnhof sortiert und dann entweder für den Einsatz wieder in Zürich aufbereitet, rezykliert, oder via Bahn wegtransportiert. Dieses Belassen von Material und die Vor-Ort Aufbereitung ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie die Kreislaufwirtschaft funktionieren kann.

Und wie steht es mit den langen Transportwegen in der Beschaffung?
Wenn die Produkte regional bleiben sollen, dann wäre es toll, wenn in der Planungsphase von Produkten der Einsatz von rezyklierten oder wieder aufbereitetem Material mitgedacht würde. Häufig stellen wir allerdings fest, dass sich die Produktentwickler und -designer ausschliesslich auf neue Materialien beziehen und dies dann so auch in die Stücklisten einarbeiten und diese Info an die Beschaffer weitergeben. Es sollte ein stärkeres Umdenken bei der frühen Phase im Produktlebenszyklus stattfinden, damit die Kreislaufwirtschaft noch mehr Aufwind bekommt.

«Es sollte ein stärkeres Umdenken bei der frühen Phase im Produktlebenszyklus stattfinden, damit die Kreislaufwirtschaft noch mehr Aufwind bekommt.»

Nachhaltigkeitsziele: Welchen Druck spüren Logistikanbieter von Seiten der Besteller?
Das müssen Sie vielleicht eher die Logistikdienstleister fragen. Was wir mitbekommen, ist aber schon, dass zumindest ein Teil der Konsumenten sensibler für Nachhaltigkeitsthemen geworden ist. Sie bauen Druck auf, um Transparenz zu erhalten, wie die Produkte transportiert worden sind. Wenn Sie mit Besteller die e-Commerce Kunden meinen, dann ist es aber meistens immer noch so, dass nicht der Besteller entscheidet, mit welchem Transportmittel ein Produkt nach Hause oder in eine Paketbox kommt, sondern der Versender. Entsprechend ist die Wahlmöglichkeit der Besteller noch nicht sehr gross vorhanden. Dies könnte sich aber ändern, wenn die Besteller vermehr bei den Anbietern nachhaltige Lieferungen verlangen. Gewisse Anbieter haben bereits gewechselt und berücksichtigen vorzugsweise Logistikdienstleister, welche mit nachhaltigen Transportmitteln unterwegs sind.

Die Klimaziele der Politik sind sehr hoch gesteckt: Inwiefern machen sie sich in den gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Logistikanbieter bemerkbar?
Momentan noch nicht sehr stark. Da der Verkehr (inkl. Privatverkehr) aber doch einen Grossteil der CO2 Emissionen verursacht, könnte ich mir vorstellen, dass hier schon bald Regulatorien aufgebaut werden könnten, welche CO2 Neutralität in der Lieferung verlangen. Ausser, die Logistikdienstleister kommen den Regulatorien zuvor und setzen von sich aus auf nachhaltigere Transportmittel und Kollaboration. Die Tendenz zu nachhaltigen Transportmitteln ist ganz klar zu erkennen. Nun bleibt nur noch die Frage, wo die ganze Energie herkommt, um den notwendigen Strom für Elektro- Lkws oder auch für die Wasserstoff- Produktion bereit zu stellen.

«Die Tendenz zu nachhaltigen Transportmitteln ist ganz klar zu erkennen. Nun bleibt nur noch die Frage, wo die ganze Energie herkommt.»

Die Strassentransportbranche in Europa hat grossen Erfolg damit, Fördermittel oder Abgabeermässigungen für Lastwagen mit alternativen Antrieben zu erhalten. Doch ist unbestritten: Drei alternativ angetrieben Lastwagen sind genauso umweltschädlich wie zwei Diesel-Lkw. Wo bleibt da das Verlagerungsziel Strasse-Schiene?
Aus meiner Sicht hat bereits eine beachtliche Verlagerung stattgefunden. Es stimmt, dass momentan versucht wird, die Nachhaltigkeit der Transportmittel in den Mittelpunkt zu stellen, statt zu diskutieren, dass ein Lkw, egal mit welchem Antrieb, immer noch ein Lkw bleibt, der Verkehr verursacht und die Strasseninfrastruktur belastet. Momentan stelle ich zwei Tendenzen fest.

  1. Der Versuch, die nachhaltigen Lastwagen von Abgaben zu entlasten
  2. Die Diskussion, dass Lastwagen, egal mit welchem Antrieb, gleich besteuert werden sollen.

Momentan findet hier ein politisches Seilziehen statt. Wir beobachten dies sehr genau, machen aber keine politische Aussagen in die eine oder andere Richtung. Das steht der Wissenschaft in meinen Augen nicht zu. Wir konzentrieren uns aufs Aufklären und tragen zur Meinungsbildung bei.