21. Juni 2010

In den Bergen wachsen die Pflanzen unter schwierigen Bedingungen. Sie sind deshalb besonders empfindlich gegenüber Luftschadstoffen. Erwärmt sich das Klima, werden viele für die Alpen charakteristische Blumen verschwinden.

es/tob. Die Ökosysteme in den Bergen gehören zu den artenreichsten Regionen der Welt. Sie bilden einen riesigen Genschatz. In den Alpen leben rund 35’000 verschiedene Tierarten. Es gedeihen in unseren Bergen auch 13’000 verschiedene Pflanzenarten. Tiefe Temperaturen, Schnee, Wind, wenig Humus, kurze Vegetationsperioden und anderes erschweren deren Wachstum. Die Pflanzen reagieren deshalb besonders sensibel auf Luftschadstoffe. Besonders problematisch sind Dieselmotoren, das heisst vor allem Lastwagen mit grossem Schadstoffaustoss.

In den Bergen haben die Wälder eine wichtige Schutzfunktion für Siedlungen und Verkehrswege. Die verschmutzte Luft setzt den Bäumen zu. Sie erwärmt auch das Klima. Setzt sich die Klimaerwärmung fort, verschieben sich die Vegetationszonen nach oben. Sehr viele alpine Pflanzen können ihren Standort kaum verändern oder gar nicht ausweichen. Laut Schätzungen dürften bei der Klimaerwärmung bis zu 45 Prozent der Pflanzenarten in den Bergen verschwinden. Die Alpen und ihre Flora brauchen deshalb besonderen Schutz. Diese Forderung ist 2010, dem von der UNO ausgerufenen Jahr der Biodiversität, aktueller denn je. Gemäss einer repräsentativen Umfrage von «Pro Natura» beurteilt in der Schweiz eine Mehrheit den Zustand der Natur als «beunruhigend» bis «katastrophal». Diese Mehrheit fordert Bund und Kantone auf, mehr zu unternehmen gegen den Rückgang der biologischen Vielfalt.

Raffaele Peduzzi leitet seit 1994 das Institut für alpine Biologie (Centro di Biologia Alpina) in der Nähe des Ritom- und Cadagnosees. Er kennt die alpine Flora gut. «Allein in Piora finden wir mehr als 1000 verschiedene Pflanzenarten. Sie wachsen unter extremen Bedingungen und müssen kämpfen, um überleben zu können.» Diese Bedingungen sind aber auch eine Chance. Die Pflanzen müssen sich anpassen, es können sich auch neue Arten bilden. In den letzten Jahren hat Raffaele Peduzzi einige Veränderungen ausgemacht. Die höheren Temperaturen vor allem in Mai und Juni bewirken, dass der Schnee früher schmilzt und sich die biologische Aktivität verschiebt. «Wir haben auch festgestellt, dass auch nur eine minimale Erhöhung der Temperaturen die Vegetation immer weiter in die Höhe verschiebt», sagt Peduzzi. Der saure Regen beeinflusse auch negativ die alpinen Seen. Jeden Frühling müssen sie einen sauren Schock verarbeiten.

Keine Flechten mehr
Auch die Luftverschmutzung ist im Centro di Biologia Alpina ein Thema. Vor einigen Jahren hat es die Auswirkung der Luftqualität auf Flechten analysiert. «Dieses Bio-Monitoring mit sensiblen Organismen belegt klar den negativen Einfluss der Autobahnen», sagt Raffaele Peduzzi. Die Konzentrationen von SO2 und NOx (der Verkehr produziert viele dieser Schadstoffe) war neben der Autobahn und den Abluftschächten des Gotthardstrassentunnels eindeutig am höchsten. Die Studie belegt, dass im Tessin der Verkehr der Hauptfaktor für die Luftverschmutzung ist. Und dort, wo die Luft am stärksten verschmutzt ist, haben die Forscher beispielsweise keine Flechten, welche die gute Luft anzeigen, mehr gefunden. «Man kann die Alpen nicht mehr als unkontaminiertes, schadstofffreies Ökosystem bezeichnen», sagt Raffaele Peduzzi.

Das Centro di Biologia Alpina auf der Alpe di Piora oberhalb von Piotta liegt neben dem Cadagnosee. Es sensibilisiert seit 1994 einerseits die Leute für die alpine Vielfalt und andererseits ermöglicht es Forschungen von verschiedenen Universitäten. In dem Zentrum kann auch übernachtet werden. Es ist von Juni bis September offen. Besuch auf Anmeldung. www.cadagno.ch