20. Februar 2014

Die Abstimmung vom 20. Februar 1994 bildet einen Leuchtturm der schweizerischen Demokratiegeschichte. Damals war es eine absolute Seltenheit, dass eine Volksinitiative Erfolg hatte. Besonders spektakulär war, dass die Alpen-Initiative nicht einen Nebenschauplatz betraf, sondern das Herzstück eines wichtigen und umstrittenen Politikbereichs, die Verkehrspolitik. Der Verfassungsartikel hat seit 20 Jahren eine enorme – positive! – Auswirkung.

In den späten 60er-Jahren leistete ich in Andermatt einige Monate Militärdienst. Ich hatte wenig Freude daran. Deshalb schwor ich mir, nie wieder dorthin zu fahren. Schon 1987 brach ich den Schwur, als mich Urner und Walliser Freunde zu einem Gedankenaustausch über eine verkehrspolitische Volksinitiative nach Andermatt einluden. In düsteren Hinterzimmern entwickelten wir in vielen spannenden Diskussionen die Alpen-Initiative. Das versöhnte mich mit dem Ort. Aber ich hätte nie erwartet, dass aus dem Militärdorf einmal ein ägyptisches Luxusresort würde. Wird dieses so nachhaltig sein wie die Alpen-Initiative?

Der Inhalt des Alpenschutzartikels ist weder soft noch schwammig, sondern einfach, radikal und konkret: der Schutz des Alpengebiets vor dem Transitverkehr, die Verlagerung des (Transit-)Schwerverkehrs von der Strasse auf die Schiene und das Verbot, die Transitstrassenkapazität in den Alpen zu erhöhen. Diese Forderungen waren und sind in der Bevölkerung populär – europaweit. Trotzdem stossen sie auf erbitterten Widerstand. Sie widersprechen den Interessen der mächtigen Strassen-, Auto- und Lastwagenlobby, aber auch der europäischen Ideologie der freien Wahl der Verkehrsmittel. Deswegen plagt aber auch europafreundliche Alpenschützer kein schlechtes Gewissen. Im Unterschied zum Bankgeheimnis und zur schwer erklärbaren Unterscheidung zwischen Steuerbetrug und -hinterziehung ist unsere Forderung ethisch-moralisch unanfechtbar, zukunftsfähig, und sie ist argumentativ kaum zu widerlegen. Deshalb hat kein EU-Politiker gewagt, gegen den Alpenschutz und die Verkehrsverlagerung mit der Kavallerie zu drohen.

Auch wenn der Alpenschutzartikel weder buchstabengetreu noch sinngemäss in die Tat umgesetzt ist, hat er doch die schweizerische Verkehrspolitik zwanzig Jahre lang entscheidend geprägt. Er ist das Fundament unserer fortschrittlichen Verkehrspolitik. Weshalb? Der Alpenschutzartikel hat den Weg geebnet für viele spätere Abstimmungen.

Ich nenne nur drei: Das Ja zur leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA, 1998), das Ja zum Bau und zur Finanzierung des öffentlichen Verkehrs (FinöV, 1998) und das Nein zur zweiten Röhre am Gotthard (Avanti-Gegenvorschlag, 2004). Ohne den mächtigen Zaunpfahl des Alpenschutzartikels gäbe es wahrscheinlich keine LSVA, keine solid finanzierte NEAT und kein Verkehrsverlagerungsgesetz, dafür aber eine zweite Strassenröhre am Gotthard. Und auch in künftigen Volksabstimmungen wird der Alpenschutzartikel im Zentrum der Diskussionen stehen – das nächste Mal, wenn es wieder um den Bau einer zweiten Strassenröhre am Gotthard geht. An diesem Beispiel zeigt sich, dass es niemand wagt, den ungeliebten Alpenschutzartikel aus der Verfassung zu streichen – das wäre vor dem Volk chancenlos. Also wird versucht, den Artikel möglichst auszuhöhlen oder ihn trickreich zu umgehen.

Der Alpenschutzartikel steht seit zwanzig Jahren in der Bundesverfassung. Und trotzdem ist er nur teilweise in die Tat umgesetzt worden. Immer noch durchqueren jedes Jahr ein paar Hunderttausend Lastwagen zu viel die Alpen. Deshalb steht hinter dem Alpenschutzartikel ein Verein mit viel Power. Auch das ist ein Unikum: Ein Verein, der kein anderes Ziel hat, als den einen Verfassungsartikel in die Tat umzusetzen. Man stelle sich vor, allen zweihundert Artikeln der Bundesverfassung müssten Vereine zum Durchbruch verhelfen. Leider sähe es aber ohne den ständigen Druck dieser Bewegung bei der Realisierung der Verkehrsverlagerung weit düsterer aus. Die Mischung aus originellen Aktionen, starken Petitionen und intelligenten politischen Vorschlägen – zum Beispiel die Alpentransitbörse – halten Verwaltung und Politik ständig auf Trab. Wer hätte gedacht, dass aus der kleinen Andermatter Gruppe von einst ein wichtiger politischer Player würde?

Neben ihrem starken politischen Inhalt hatte und hat die Alpen-Initiative noch andere Auswirkungen. Sie war es, die der Fernsehsendung «Arena» zu Kultstatus verhalf. Zwar ist es nicht bewiesen, ja sogar wenig wahrscheinlich, dass die «Arena» Abstimmungen entscheidet. Aber der legendären Sendung zur Alpen-Initiative wird genau dies zugeschrieben. Die kleinen, unerschrockenen Davids brachten mit ihren cleveren Interventionen vor der Fernsehnation die behäbig-überheblichen Goliaths, das politische Establishment, in arge Bedrängnis. Mehr als das: die Sendung hatte (personal-)politische Langzeitwirkung. Der damalige Verkehrsminister Adolf Ogi erlebte einen Showdown, der ihn verkehrspolitisch derart schwächte, dass er wenig später ins Militärdepartement wechseln musste. Vielleicht wurde ihm zum Verhängnis, dass er als Bergler mit dem Herzen für die Alpen-Initiative sein musste, als Bundesrat aber Nein sagte. Übermotiviert, aber nicht ganz glaubwürdig setzte er sich für das Nein ein. Auf der anderen Seite wurde der damalige Urner Landammann Hansruedi Stadler durch die «Arena» zu einer nationalen Figur, und auch meiner politischen Karriere hat die Abstimmungsarena zur Alpen-Initiative sicher nicht geschadet.

Wenn es die Alpen-Initiative und den Alpenschutzartikel nicht gäbe, müssten wir das Projekt heute lancieren. Sie sind für die schweizerische Verkehrspolitik unverzichtbar. Ich wünsche allen Aktivistinnen und Aktivisten weiterhin viel alpine Hartnäckigkeit, Phantasie, Begeisterung und Erfolg.

*Andrea Hämmerle, Gründungsmitglied der Alpen-Initiative, alt Nationalrat, Pratval GR.